Der Film „Wintermärchen“ von Jan Bonny
Publikumsgespräch bei der Premiere des Films auf dem Locarno Festival am 10.08.2018. V.l.n.r.: Regisseur Jan Bonny, Schauspielerin Ricarda Seifried, Schauspieler Thomas Schubert, Schauspieler Jean-Luc Bubert, Produzentin Bettina Brokemper. (Photo: Roger Weil – Lizenz: CC BY-SA 4.0)
Becky, Tommi und Maik sind drei junge Menschen, die Geschlechtsverkehr miteinander haben, jeder und jede mit jedem, auch mal zu dritt. Öfters feiern sie auch mal miteinander und trinken dabei zu viel. Becky, Tommi und Maik sprechen kaum miteinander, sondern verständigen sich fast nur durch Anschreien. Ihr Leben empfinden die Drei als öde und so ziehen sie manchmal los und erschießen Ausländer. Das ist schon die ganze Geschichte, die Jan Bonny in seinem Spielfilm „Wintermärchen“ erzählt. Das Leben des Terrortrios wird sehr drastisch dargestellt – mit vielen expliziten Sex- und Gewaltszenen, die so einschneidend bzw. einschießend sind, dass viele Zuschauer bei der Premiere vorzeitig den Kinosaal verlassen.
Auch wenn Jan Bonny im Filmgespräch auf dem Locarno Festival sagt, er erzähle nicht die Geschichte des NSU, so kann man angesichts der offensichtlichen Parallelen zur NSU-Mordserie nicht umhin, den Film als eine Ursachenbestimmung von rechtsextremem Terror zu lesen. Und da liefert der Film nur die Topoi sexuelle Frustration und Langweile. Das ist ungefähr die analytische Tiefe von Betrachtungen darüber, wie viele Hoden Hitler besessen hat.
Wenn wir aber dem Regisseur glauben wollen, dass es in „Wintermärchen“ nicht um den NSU gehe, dann muss man fragen, was dieser Film soll. Über zwei Stunden Schreien, Saufen, Ficken und Ballern aufs Heftigste, und das war es. Die Perspektive der Opfer der drei Terroristen wird in dem Film keinmal eingenommen, diese Menschen erscheinen nur als unbekannte Objekte in einem Egoshooter-Spiel. Das macht „Wintermärchen“ zu einem sehr kalten Film.
Man könnte den Film schnell abhaken und sich mit wirklich wichtigen Filmen beschäftigen, wenn da nicht die realen Morde des NSU wären, an die der Film andockt. Das ist es, was diesen Film so ärgerlich macht. Da gibt es diese realen Verbrechen mit zehn Mordopfern, mit schrecklichem Leid, mit traumatisierten Familien, die der Filmregisseur Jan Bonny lediglich als Folie benutzt, um darauf einen reißerisch daherkommenden und fürchterlich belanglosen Film herzustellen. Dass so ein Machwerk dann auch noch in den an sich recht anspruchsvollen Wettbewerb des Locarno Festivals aufgenommen wurde, das vergrößert noch den Ärger.
Siehe auch:
NSU-Film „Wintermärchen“ kontrovers in Locarno aufgenommen (Negative Space)
WINTERMÄRCHEN von Jan Bonny (Sennhausers Filmblog)
Alles nur ein stummer Schrei nach Liebe? (Cineman)
Wintermärchen (2018) – Saufen, Ficken, Morden (Kino-Zeit)
Wintermärchen – Kritik (critic.de – die Filmseite)
Festival der Extreme (Frankfurter Rundschau)
NSU-Schocker „Wintermärchen“ – Triebabfuhr unter Terroristen (Spiegel Online)
Abgesang auf den typischen Festivalfilm (NZZ am Sonntag)