Das 77. Locarno Film Festival
Spazio Cinema in Locarno. (Photo: Roger Weil – Lizenz: CC BY-SA 4.0)
Ohne Glamour geht es nicht bei den großen Filmfestivals. Durch Glamour erhalten die Festivals die mediale Aufmerksamkeit, die sie brauchen, um die gezeigten Filme an die Kinobesucher*innen zu bringen. Beim diesjährigen Filmfestival in Locarno bediente der indische Kinoweltstar Shah Rukh Khan die Glamour-Erwartung des Publikums auf Vortrefflichste. Kreischende Fans (darunter nicht nur Teenies) auf der Piazza Grande und im Saal des GrandRex – wann hatte man das zuletzt gesehen?
Bei so intensivem Glamour aus Bollywood fiel es auch überhaupt nicht ins Gewicht, dass in diesem Jahr die Stars aus Hollywood von der Piazza-Grande-Bühne fernblieben. Auch so gab es genügend Spektakel im schönsten Freiluft-Kino der Welt. Klaudia Reynicke (mit dem Werk „Reinas“), César Díaz (mit „Mexico 86„), Claude Barras (mit „Sauvages“), Paz Vega (mit „Rita“) und vor allem Mohammad Rasoulof (mit „The Seed of the Sacred Fig“) begeisterten. Hingegen boten Simon Jaquemet, Min Bahadur Bham und Alice Lowe mit „Electric Child“, mit „Shambhala“ und mit „Timestalker“ eher enttäuschen Filme an.
Kinostühle auf der Piazza Grande in Locarno.
(Photo: Roger Weil – Lizenz: CC BY-SA 4.0)
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Meine gesehenen Filme in diesem Jahr in Locarno:
„Electric Child“ von Simon Jaquemet
(Schweiz, Deutschland, Niederlande, Philippinen 2024)
„Sonnys und Akikos Freude über ihr erstes Kind schlägt in Panik um, als der Arzt ihnen eine unfassbare Nachricht überbringt. Verzweifelt versucht Sonny, mit einer experimentellen KI-Superintelligenz zu beweisen, dass sich die Ärzte irren. Doch jede Handlung, die er unternimmt, droht eine beunruhigende und gefährliche Reaktion auszulösen.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: Ausreichend
„The Killer That Stalked New York“ von Earl McEvoy
(USA 1950)
„Verstörender, auf wahren Begebenheiten basierender Pandemie-Noir von Earl McEvoy. Eine Schmugglerin (Evelyn Keyes) verbreitet auf der Flucht vor der Polizei unwissentlich das Pockenvirus in New York. «Patient Zero» als Femme fatale.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: Gut
„Der Spatz im Kamin“ von Ramon Zürcher
(Schweiz 2024)
„Karen und Markus wohnen mit ihren Kindern in Karens idyllischem Elternhaus. Zu Markus’ Geburtstag reist Karens Schwester Jule samt Familie an. Düstere Erinnerungen an die tote Mutter verstärken Jules Drang nach Rebellion gegen das Regime ihrer Schwester. Während sich das Haus mit Leben füllt, steigt in Karen die Anspannung, bis sich alles zuspitzt und Altes zerstört wird, um Neues zu erschaffen.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: Befriedigend
„Mexico 86“ von César Díaz
(Belgien, Frankreich 2024)
„1976. Morddrohungen zwingen Maria, eine guatemaltekische Rebellen-Aktivistin im Kampf gegen die korrupte Militärdiktatur, nach Mexiko zu fliehen und ihren Sohn zurückzulassen. 10 Jahre später, als er zu ihr zieht, muss sie sich zwischen ihren Pflichten als Mutter und der Fortsetzung ihres revolutionären Aktivismus entscheiden.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: Gut
„Sew Torn“ von Freddy Macdonald
(USA, Schweiz 2024)
„Der Stoffladen der mobilen Schneiderin Barbara Duggen steht kurz vor der Pleite. Nach einem missglückten Termin muss sie für eine Kundin einen Knopf besorgen und stösst dabei auf einen geplatzten Drogendeal. Beim Anblick der am Boden liegenden Biker, der Waffen und des Koffers ist sie hin- und hergerissen. Sie hat drei Möglichkeiten: das perfekte Verbrechen begehen, die Polizei rufen oder wegfahren.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: Befriedigend
„Sulla terra leggeri“ von Sara Fgaier
(Italien 2024)
„Gian kämpft gegen die Dunkelheit infolge einer Amnesie. Seine Tochter Miriam, die er nicht mehr erkennt, gibt ihm ein Tagebuch, das er mit 20 geschrieben hat. Es geht um Leila, mit der er in einer Nacht die Liebe entdeckt hat. Die Intensität dieser Gefühle führt ihn wieder zu sich selbst und zu einer Offenbarung. Was passiert, wenn wir uns nicht mehr an die Liebe unseres Lebens erinnern?“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: Befriedigend
„Ma famille chérie“ von Isild Le Besco
(Frankreich 2024)
„Estelle flieht vor häuslicher Gewalt und trifft ihre Mutter vor einer Familienfeier. Sie reden über Gefühle und Erinnerungen. Die Ankunft von Marc, den sie seit Kindheit nicht gesehen haben, weckt alten Groll. Inmitten von Konflikt und Enthüllungen stellt sich die Familie ihrer Vergangenheit.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: Gut
„The Seed of the Sacred Fig“ von Mohammad Rasulof
(Iran, Deutschland, Frankreich 2024)
„Iman, ein Untersuchungsrichter am Revolutionsgericht in Teheran, kämpft mit Misstrauen und Paranoia, als die landesweiten politischen Proteste zunehmen. Als seine Waffe auf mysteriöse Weise verschwindet, verdächtigt er bald seine Frau Najmeh und seine Töchter Rezvan und Sana und ergreift zu Hause drastische Massnahmen. Die gesellschaftlichen Normen und die Regeln des Familienlebens werden ausser Kraft gesetzt.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: Sehr gut
„The Lady from Shanghai“ von Orson Welles
(USA 1947)
„Nie kam Orson Welles einem A-Film so nahe wie in diesem komischen, düsteren und barocken Werk: Ein bizarrer und paranoider Thriller, in dem auch Welles‘ Ex-Frau Rita Hayworth mitspielt und ein irischer Seemann mit Köpfchen gegen reiche und korrupte Intriganten kämpft.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: Befriedigend
„Mond“ von Kurdwin Ayub
(Österreich 2024)
„Die ehemalige Kampfsportlerin Sarah verlässt Österreich, um drei Schwestern aus einer reichen jordanischen Familie zu trainieren. Was sich nach einem Traumjob anhört, nimmt bald beunruhigende Züge an: Die jungen Frauen sind von der Aussenwelt abgeschottet und werden konstant überwacht. Sport scheint sie nicht zu interessieren. Was also ist der Grund, dass Sarah engagiert worden ist?“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: Gut
„La vita accanto“ von Marco Tullio Giordana
(Italien 2024)
„Die Achtziger, eine italienische Kunststadt, eine reiche Familie. Rebecca wird mit einem auffälligen roten Fleck im Gesicht geboren, der in der Familie Ablehnung, Grausamkeit und gequälte Liebe hervorruft. Die Musik wird ihre Zuflucht sein.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: Gut
„Shambhala“ von Min Bahadur Bham
(Nepal, Frankreich, Norwegen, Hongkong, China, Türkei, Taiwan, USA, Katar 2024)
„In einem Dorf im nepalesischen Himalaya lebt die frisch verheiratete, schwangere Pema mit ihren drei Ehemännern nach der Tradition der Polyandrie und versucht, das Beste aus ihrem neuen Leben zu machen. Als ihr erster Ehemann auf der Route nach Lhasa verschwindet, bricht Pema mit dem Mönch Karma in die Wildnis auf, um ihn zu finden. Es ist eine Reise der Selbstentdeckung und der Befreiung.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: Mangelhaft
„Sauvages“
„Crickets, It’s Your Turn“ von Olga Korotko
(Frankreich, Kasachstan 2024)
„Die 25-jährige Merey führt ein ruhiges, aber glückliches Leben in Almaty. Durch Zufall lernt sie den charmanten Nurlan kennen, der sie zu einer Geburtstagsparty in die Berge einlädt. Statt der erwarteten kleinen Feier mit neuen Freund/innen entspinnt sich eine intensive und turbulente Nacht, die sich rasch zu einem düsteren Katz-und-Maus-Spiel entwickelt.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: Gut
„Women’s Prison“ von Lewis Seiler
(USA 1955)
„Es scheint, als wäre die Hälfte aller Noir-Femmes-fatales in den Zellen dieses Films eingesperrt. Die reine Frauenbesetzung stellt den Gefängnisfilm auf den Kopf. Fantastische Low-Budget-Geschichte über Tyrannei und Wut unter der Regie des effizienten Lewis Seiler.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: Gut
„Transamazonia“ von Pia Marais
(Deutschland, Frankreich, Schweiz, Taiwan, Brasilien 2024)
„Rebecca, Tochter eines Missionars, gilt als Wunder, seit sie als Kind tief im Amazonas-Regenwald einen Flugzeugabsturz überlebt hat. Jahre später ist sie Wunderheilerin und erhält mit ihrer Berühmtheit die Mission aufrecht. Als illegale Holzfäller ins Land eindringen, das den Indigenen gehört, die sie missionieren, führt ihr Vater diese ins Epizentrum des eskalierenden Konflikts.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: Gut
„Timestalker“ von Alice Lowe
(Großbritannien 2024)
„‚Timestalker‘ begleitet die glücklose Agnes durch die Zeit. Sie verliebt sich immer wieder in den falschen Mann, stirbt einen grausamen Tod, wird ein Jahrhundert später wiedergeboren, begegnet ihm erneut, und alles beginnt von vorn. Die Erzählung erstreckt sich über viele Epochen, voll von dem chaotischen Nervenkitzel, den du erlebst, wenn du deinem Herzen folgt. Oder eher deinen Trieben…?“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: Ungenügend
„The Big Heat“ von Fritz Lang
(USA 1953)
„Ein fiebriger Film noir, in dem ein verzweifelter Cop (Glenn Ford) ein Verbrechersyndikat jagt, das für den Tod seiner Frau verantwortlich ist. Ein Meisterwerk, das zeigt, dass jede Handlung eine Konsequenz hat, und dass diese brutal, ja monströs sein kann.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: Gut
„Suyoocheon“ von Hong Sang-soo
(Südkorea 2024)
„Dozentin Jeonim bittet ihren Onkel, die Regie eines Theaterstücks an ihrem Fachbereich zu übernehmen. Täglich besucht sie einen nahe gelegenen Bach und zeichnet dessen Strukturen. Ihr Onkel übernimmt die Regie, da er sich an eine Inszenierung während seiner Studienzeit vor 40 Jahren an derselben Uni erinnert. Jeonim und ihr Onkel werden in einen Skandal unter den Studierenden verwickelt.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: Befriedigend
„Rita“ von Paz Vega
(Spanien 2024)
„Sevilla, Sommer 1984. Rita und Lolo sind Geschwister, sieben und fünf Jahre alt, und bilden das Herzstück einer einfachen Arbeiterfamilie. Rita träumt davon, an den Strand zu gehen, aber zu Hause ist das Wort ihres Vaters Gesetz – immer. Zum ersten Mal hinterfragt Rita, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Sie erkennt auch, dass ihr Zuhause immer unsicherer wird, vor allem für ihre Mutter.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: Befriedigend
„The Piano“ von Jane Campion
(Australien, Neuseeland, Frankreich 1993)
„Die stumme schottische Pianistin Ada wird ins ferne Neuseeland verheiratet. Bei ihrer Ankunft mit ihrer kleinen Tochter lässt ihr Mann ihr Klavier am Strand, an dem es abgestellt wurde, zurück – Sinnbild ihrer künftigen Schwierigkeiten. Bald wendet sich Ada einem verführerischen, hilfsbereiten Nachbarn zu. Jane Campions Klassiker wurde mit der Goldenen Palme und drei Oscars ausgezeichnet.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: Gut
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Was negativ auffiel
Locarno hat nach dem Rückzug von Marco Solari von der Präsidentschaft seit diesem Jahr eine neue Präsidentin. Es ist die superreiche Kunstsammlerin Maja Hoffmann, die über ein geschätztes Vermögen von 7 Milliarden US-Dollar verfügt. Das viele Geld, mit dem Maja Hoffmann sich in der Kunstszene Anerkennung erworben hat, entstammt aus den Gewinnen des Pharma-Konzerns Hoffmann-La Roche.
Zu den Aufgaben der Präsidentin eines Filmfestivals gehört es auch, Sponsoren zu akquirieren. Würde Maja Hoffmann 10% ihres Vermögens in das Festival investieren, was die Milliardärin gar nicht spüren würde, dann wäre die Deckungslücke im Etat des Festivals für die nächsten 40 Jahre gedeckt. Eine Rechnung, die so mancher potentieller Sponsor vielleicht auch anstellen mag und überdenken wird, ob er unbedingt das Festival dieser Frau sponsern muss. Einer Frau, die übrigens kein eigenes Geld ins Festival steckt.
Die Sponsorenakquise ist aber nur eine Aufgabe der Präsidentin. Ihre Hauptaufgabe ist es, das Festival zu repräsentieren, und hier versagt Maja Hoffmann komplett. Nur so viel: Maja Hoffmann verlässt das von ihr zu repräsentierende Filmfestival nach der Hälfte der Spielzeit „wegen dringlicher Termine“, nachdem sie zuvor erklärt hat, dass sie eigentlich im August immer Urlaub mit ihrer Familie mache und über eine andere Platzierung des Locarno Film Festivals im Jahreskalender nachdenke.
Die Präsidentin des Festivals reist nach der ersten Halbzeit ab – das geht gar nicht und ist oberpeinlich. Das Locarno Film Festival hat wirklich eine bessere Repräsentanz verdient.
Imagefilm über Locarno 77. (Eingebettetes YouTube-Video)
Siehe auch:
Cineastisches Sommervergnügen am Lago Maggiore