Cineastisches Sommervergnügen am Lago Maggiore

Das 76. Locarno Film Festival

Kinoleinwand auf der Piazza Grande in Locarno

Kinoleinwand auf der Piazza Grande in Locarno.
(Photo: Roger Weil – Lizenz: CC BY-SA 4.0)

Wer im Winter zur Berlinale fährt, der sollte sich im Sommer das Film Festival Locarno gönnen. Dieses traditionsreiche A-Festival der Schweiz bietet nämlich all das, was den Berliner Filmfestspielen zu einem perfekten Festival fehlt. Um nicht falsch verstanden zu werden, auch Locarno ist nicht das perfekte Festival – was ist schon perfekt in dieser Welt – aber Locarno ist das Komplementärfestival zur Berlinale. Addiere Locarno zur Berlinale, dann hast du das perfekte Filmfestival!

Was ist dieses Komplementäre?

  • Locarno hat ein Festivalzentrum: die wunderschöne mit historischer Architektur umbaute Piazza Grande. Alle Kinos des Festivals sind von hier aus in wenigen Minuten zu Fuß zu erreichen.
  • Locarno bietet eine riesiges Open-Air-Kino: eben diese Piazza Grande. Auf der größten Leinwand Europas werden hier an jedem Abend unmittelbar nach Einbruch der Dunkelheit 8000 Zuschauer*innen mit einem Film verzaubert – an manchen Abenden sogar mit zwei Filmen.
  • Auf der Piazza Grande werden spannende, gesellschaftskritische und unterhaltsame Filme gezeigt – manchmal sogar Blockbuster. So ein Kino mit 8000 Plätzen will schließlich gefüllt werden. Für die künstlerisch fordernde Filme hat man die beiden Wettbewerbe, die wesentlich anspruchsvoller kuratiert sind als die Berlinale, aber zwischendurch auch mal einen Unterhaltungsfilm bieten.
  • In Locarno gibt es zu jedem Wettbewerbsfilm ein Q&A mit den Filmschaffenden in einer entspannten Wiesenatmosphäre. Nur in Locarno kann man sich mit berühmten und weniger berühmten Regisseur*innen und Schauspieler*innen auf Augenhöhe austauschen oder sie auch einfach nur aus der Nähe still bewundern. Dazu gibt es auch noch Masterclasses der Regiemeister*innen und Kameraleute, die auch für das nicht-akkreditierte Publikum geöffnet sind.
  • Das zweitgrößte Kino in Locarno, das Palexpo FEVI, bietet mit 2800 Sitzplätzen eine weitaus größer Kapazität als das größte Kino der Berlinale. Mit den Altstadt-Kinos PalaCinema und GranRex bietet Locarno dazu die prächtigsten Saalkinos aller Filmfestivals – vielleicht mit Ausnahme des Zoo Palasts auf der Berlinale, der ist auch sehr prächtig.
  • Locarno präsentiert jedes Jahr eine pralle, cinephile Retrospektive, die ihren Namen verdient. Meist ist es eine nahezu umfassende Werkschau eines Regisseurs oder aber auch ein Blick in die Filmproduktion eines Landes in einer bestimmten Epoche – so wie in diesem Jahr Filme aus Mexiko aus den 1940er bis 1960er Jahren.
  • In Locarno bekommt man für jeden Film, den man sehen will, Tickets. Ganz entspannt für wirklich jeden Film. Meistens gibt es sogar noch Tickets an der Abendkasse. Trotzdem sind die Kinos meistens voll – nicht rappelvoll, aber gut gefüllt.
  • Die ganze Stadt Locarno steht im Zeichen des Filmfestivals. Schon bei der Ankunft am kleinen Bahnhof von Locarno wird man von freundlichen Festival-Mitarbeiter*innen in Empfang genommen. Alles ist im schwarz-gelben Leopardenlook des Festivals dekoriert. Die Menschen der Stadt strömen auf die Piazza Grande und in die Kinosäle, machen das Festival zu ihrem Festival.
  • Locarno bietet eine touristisches Rahmenprogramm wie kein anderes Filmfestival. Will man mal an einem Nachmittag keinen Film sehen, dann kann man im See schwimmen, Schiff fahren, Bergsteigen, Schmalspurbahn fahren oder im nur zwei Zugstunden entfernten Mailand shoppen.
  • Und das Locarno Film Festival findet im Sommer statt.

Piazza Grande von oben

Piazza Grande von oben. (© Locarno Film Festival / Ti-Press)

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Meine gesehenen Filme in diesem Jahr in Locarno:

„La bella estate“ von Laura Luchetti
(Italien 2023)
„1938. Die junge Ginia ist eben erst vom Land nach Turin gezogen. Auf der Suche nach Abenteuern entdeckt sie die schillernde Welt der Künstler und beginnt eine Affäre mit einem Maler. Amelia, das Model, das sie in die Bohème einführt, ist sinnlich, frei und anders als alle anderen. Während ihres ’schönen Sommers‘ erliegt Ginia ihrer ersten grossen Liebe und feiert den Mut, ganz sie selbst zu sein.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: ausreichend

„Čuvari formule“ von Dragan Bjelogrlić
(Serbien, Slowenien, Montenegro, Nordmazedonien 2023)
„Oktober 1958, der Höhepunkt des Kalten Krieges. Kommunistische Wissenschaftler werden mit einer tödlichen Dosis Uran verstrahlt und zur Behandlung bei Professor Mathé nach Paris geschickt. Er ist sicher, dass sie eine Atomwaffe gebaut haben, und schlägt die erste Transplantation von menschlichem Knochenmark vor. Handelt es sich um ein Experiment mit lebenden Menschen oder will er wirklich helfen?“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: gut

„Nu aștepta prea mult de la sfârșitul lumii“ von Radu Jude
(Rumänien, Luxemburg, Frankreich, Kroatien 2023)
„Eine Geschichte über Kino und Wirtschaft in zwei Teilen: die überarbeitete und unterbezahlte Angela fährt durch Bukarest, um das Casting für ein von einem multinationalen Unternehmen in Auftrag gegebenes Video über ‚Sicherheit am Arbeitsplatz‘ zu drehen. Als einer der Interviewpartner die Schuld des Unternehmens an seinem Unfall aufbringt, kommt es zu einem Skandal.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: gut

„Kona fer í stríð“ von Benedikt Erlingsson
(Island, Frankreich, Ukraine 2023)
„Um sich gegen die Zerstörung der isländischen Landschaft durch eine Multinationale zu wehren, gibt Halla ihre ruhige Art auf und wird zu einer mutigen und unkonventionellen Öko-Aktivistin. Benedikt Erlingssons Komödie spiegelt Marianne Slots Produktionskonzept, ihren Fokus auf die Kraft des Erzählens und die Freiheit des Blicks wider. Ein zeitgenössischer Film, der verzaubert und herausfordert.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: gut

„Yannick“ von Quentin Dupieux
(Frankreich 2023)
„Mitten in einer Aufführung von ‚The Cuckold‘, einem sehr schlechten Boulevardstück, steht Yannick auf und unterbricht die Vorstellung, um die Kontrolle über den Abend zu erlangen.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: sehr gut

„The Vanishing Soldier“ von Dani Rosenberg
(Israel 2023)
„Shlomi, ein 18-jähriger israelischer Soldat, flieht vom Kriegsgebiet des Gazastreifens zu seiner Freundin nach Tel Aviv, nur um festzustellen, dass die IDF-Elite davon überzeugt ist, dass er entführt wurde. Eine tragikomische Reise, die sich über einen Zeitraum von 24 Stunden in den heissen, feuchten Strassen von Tel Aviv abspielt und von Terror zu Hoffnung, von Romantik zu Albtraum wechselt.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: gut

„Non sono quello che sono – The Tragedy of Othello di W. Shakespeare“ von Edoardo Leo
(Italien 2023)
„Shakespeares Othello, genau so erzählt, wie er geschrieben wurde und nur mit der Kraft des römischen Dialekts in die Gegenwart übertragen. Jago, Othello und Desdemona sind leider immer noch unter uns: Der Film erzählt Aktuelles anhand eines Klassikers. Die Geschichte spielt in den frühen Zweitausendern und ist zeitlos. Gut und Böse vermischen sich in einem Wirbel aus Betrug, Verrat und wahnsinniger Eifersucht.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: befriedigend

„La Paloma“ von Daniel Schmid
(Schweiz, Frankreich 1974)
„Zwischen der schönen, von Tuberkulose gezeichneten Kabarettsängerin Viola und dem in sie verliebten, reichen Grafen Isidor Palewski entspinnt sich eine turbulente Beziehung, die sogar dem Tod trotzt. Mit 33 offenbarte Daniel Schmid (1941-2006) mit diesem kühnen und raffinierten Werk sein Talent und verwebte gekonnt Sehnsucht und Obsession, Mythologie und Satire, Leidenschaft und Dekadenz.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: mangelhaft

„Essential Truths of the Lake“ von Lav Diaz
(Philippinen, Frankreich, Portugal, Singapur, Italien, Schweiz, Großbritannien 2023)
„Auf die Frage, was einen Mann die Wahrheit suchen lässt, antwortet Leutnant Papauran, dass er sich vielleicht einfach weiter Schmerzen zufügen will. Trotz Präsident Dutertes blutiger Morde kämpft er weiter um die Lösung eines 15 Jahre alten Falls in einer aschebedeckten Landschaft und einem undurchdringbaren See. Es ist eine Last geworden, die er kaum noch tragen kann, aber trotzdem weiterschleppt.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: gut

„Han matado a Tongolele“ von Roberto Gavaldón
(Mexiko 1948)
„Tanzgöttin Tongolele (spielt „sich selbst“) will die Welt des Kabaretts aufgeben und ihren Journalisten-Freund heiraten. Damit haben viele zwielichtige Gestalten ihre Probleme… Rumbera trifft Noir trifft Krimi trifft Melodrama trifft Komödie in einer dichten Stunde voll ultrastylischer Unterhaltung.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: gut

„Voyage au pôle Sud“ von Luc Jacquet
(Frankreich 2023)
„Die paar tausend Kilometer zwischen Patagonien und dem Südpol bieten Reisenden ein faszinierendes und eindrückliches Erlebnis. Einige sprechen von Sucht, vom ‚Antarctic bite‘. Luc Jacquet, Regisseur von La Marche de l’empereur (2005), erlebt dies seit 30 Jahren. Sein neuer Film ist ein eindrucksvolles Abenteuer mit Bildern jenseits aller Worte. Eine ultimative Hommage an einen verschwindenden Kontinent.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: gut

„The Old Oak“ von Ken Loach
(Großbritannien, Frankreich, Belgien 2023)
„The Old Oak ist der letzte öffentliche Treffpunkt in einer einst blühenden Bergbaugemeinde. Der Wirt TJ klammert sich daran, aber seine Position wird schwächer, als der Pub mit der Ankunft syrischer Flüchtlinge zum umkämpften Gebiet wird. Zwischen TJ und der Syrerin Yara entwickelt sich eine ungewöhnliche Freundschaft. Können sie einen Weg finden, damit die beiden Communities einander verstehen?“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: sehr gut

„California Straight Ahead“ von Harry A. Pollard
(USA 1925)
„Durch eine Reihe bizarrer Pannen am Vorabend seiner Hochzeit verliert der Rennfahrer Tom seine Verlobte und eine grosse Erbschaft. Um das Vertrauen seiner Geliebten und der Familien zurückzugewinnen, muss er ein grosses Rennen in Los Angeles gewinnen – mit vielen unerwarteten Wendungen auf dem Weg. Anthologiewürdige Szenen und viel Einfallsreichtum: ein Juwel unter den romantischen Stummfilm-Komödien.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: gut

„Première affaire“ von Victoria Musiedlak
(Frankreich 2023)
„Als sie ihren ersten Fall übernimmt, hat die frischgebackene Anwältin Nora das Gefühl, null Lebenserfahrung zu haben. Ab dem ersten Treffen mit ihrem Mandanten und während der Ermittlungen entdeckt Nora die Grausamkeit der Welt um sie herum – privat und beruflich. Schnell mitgerissen von ihrem turbulenten neuen Leben, macht sie einen Fehler nach dem anderen.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: gut

„Milsu“ von RYOO Seung-wan
(Südkorea 2023)
„Im Kunchon der Siebziger sind die besten Freundinnen Choon-ja und Jin-sook ausgebildete Taucherinnen und verdienen ihr Geld mit Meeresfrüchten. Der Bau von Fabriken nahe des Strandes bringt sie jedoch um ihren Lebensunterhalt. Aus Verzweiflung steigen sie in einen Schmugglerring ein. Als das Geschäft blüht, hat Jin-sooks Familie damit Mühe und das friedliche Dorf beginnt zu zerfallen.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: befriedigend

„La città delle donne“ von Federico Fellini
(Italien, Frankreich 1980)
„Marcellos Gewissheit, den Frauen zu gefallen, gerät ins Wanken, als er auf einem feministischen Kongress landet, der die Männer abschaffen will. Die Reise zu den Obsessionen eines Erotomanen erforderte aussergewöhnliche Mittel und einen aussergewöhnlichen Produzenten.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: ausreichend

„Und dass man ohne Täuschung zu leben vermag“ von Katharina Lüdin
(Deutschland, Schweiz 2023)
„Sommerliche Vorstadthitze. Merit, Eva, Lion, Rose und David kreisen um ihre konfliktreichen Beziehungen. Sie reden, aber ihre Worte treffen sich nicht. Sie spielen Theater, während sie ihr Leben proben. Der Garten braucht Wasser. Zukunftsängste und Spuren der Gewalt drängen in die Gegenwart. Eine Erzählung über die Schönheit und Schwere, die in der Entdeckung unserer individuellen Wahrheiten liegen.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: befriedigend

„Nähtamatu võitlus“ von Rainer Sarnet
(Estland, Lettland, Griechenland, Finnland 2023)
„Der Film ist eine Kung-Fu-Komödie, die in einem orthodoxen Kloster in der Sowjetunion der Siebziger spielt.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: ungenügend

„Theater Camp“ von Molly Gordon und Nick Lieberman
(USA 2023)
„Tony-Award-Gewinner Ben Platt und Molly Gordon sind Amos und Rebecca-Diane – beste Freunde und Schauspiellehrer in einem heruntergekommenen Theatercamp in New York. Als der Tech-Bro Troy ankommt, um das Anwesen zu führen, tun sich Amos, Rebecca-Diane und Produktionsleiter Glenn mit den Mitarbeitern und Schülern zusammen, um ein Meisterwerk zu inszenieren und ihr Sommercamp zu retten.“
(Quelle: Locarno Film Festival)
Meine Bewertung: sehr gut

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Was negativ auffiel

Auf der Piazza Grande wurde in diesem Jahr mit „The Old Oak“ der neueste Spielfilm von Ken Loach gezeigt. Es ist ein Film über die Ankunft syrischer Flüchtlinge in einem kleinen Kaff im Norden Englands, über das Verschwinden der Arbeiterkultur, das sich im Untergang der letzten Arbeiterkneipe am Ort ausdrückt, und über die rassistischen Ressentiments, mit denen die einheimischen Arbeiter den Flüchtlingen entgegentreten. Ein typischer Ken-Loach-Film mit dem Herz am linken Fleck und klarer antirassistischer Stoßrichtung. „The Old Oak“ wurde von den Zuschauenden der Piazza Grande am besten bewertet und erhielt somit den Publikumspreis des Festivals. Das kann man machen, denn der Film ist wirklich ein gelungenes, bewegendes und unterhaltsames Sozialdrama mit einer mutmachenden Haltung.

Was aber an dem Abend der Filmpremiere in Locarno äußerst ärgerlich war, dass Ken Loach auf auf der Bühne der Piazza Grande vom Publikum verzückt und enthusiastisch abgefeiert wurde, als einziger Akteur des gesamten Festivals mit Standing Ovations. Es war kein Thema in Locarno, dass Ken Loach die antisemitische BDS-Bewegung unterstützt, selbst zu Künstlerboykotts gegen Israel aufruft und 2021 wegen Antisemitismus aus der britischen Labour Party ausgeschlossen wurde. Ken Loach, dessen Filme zwar frei von antisemitischen Ressentiments sind, der sich aber durch seine aggressive antiisraelische politische Positionierung in den letzten Jahren selbst disqualifiziert hat, ist wirklich kein Mensch, dem man zujubeln sollte. Die Festivalveranstalter von Locarno hätten Ken Loach diese große Bühne nicht geben dürfen und das Publikum von Locarno hätte sich beim Applaudieren zurückhalten müssen.

Imagefilm über Locarno 76. (Eingebettetes YouTube-Video)


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