Dieses Jahr in Karlsbad

Das 57. Karlovy Vary International Film Festival

Eingang zum Festivalzentrum

Eingang zum Zentrum des Filmfestivals in Karlovy Vary.
(Photo: Roger Weil – Lizenz: CC BY-SA 4.0)

Karlovy Vary (dt. Karlsbad) ist ein mondäner Kurort in Tschechien eingebettet in eine Mittelgebirgslandschaft und ausgestattet mit einem gut erhaltenen Stadtbild aus der alten österreichisch-ungarischen k.u.k. Monarchie. Karlsbad beherbergt seit 1946 das wichtigste Filmfestival Osteuropas, das Karlovy Vary International Film Festival (KVIFF).

Die beiden A-Festivals in Berlin und Locarno bildeten bisher meinen Erfahrungsrahmen für Filmfestivals in dieser Liga. Das KVIFF ist auch ein A-Festival. Es liegt atmosphärisch eher bei Locarno als bei Berlin.

Was macht das KVIFF aus?

Es ist ein überschaubares Festival, die Kinos sind alle fußläufig untereinander erreichbar. Das Festival ist im Stadtbild und vor allem bei den Menschen der Stadt tief verankert. Das KVIFF ist kein Festival in der Stadt, sondern das Fest der Stadt. Es gibt ein preisgünstiges Festivalticket, für 81 Euro kann man an allen 9 Festivaltagen täglich drei Filme sehen, das macht 3 Euro pro Film.

Es gibt hervorragend kuratierte Filmsektionen. Es gibt ganz viel osteuropäisches Kino. Es gibt die besten Filme der Berlinale und der Filmfestspiele von Cannes. Es gibt Hollywood-Stars (Russell Crowe, Ewan McGregor, Robin Wright). Es gibt gesellige Menschenschlangen an den Countern für Eintrittskarten in Papierform, aber auch ein funktionierendes Online-Ticketing. Es gibt Trubel auf den Straßen und Gemütlichkeit in den böhmischen Restaurants. Es gibt Entspannung in den Bäderbetrieben des Kurorts.

Man sieht in Karlovy Vary auch bekannte Gesichter aus dem Publikum der Berlinale. Manche vermissen vielleicht die Anstehschlangen der Berlinale, die mit Corona abgeschafft wurden, und kommen hier in Karlovy Vary auf ihre Kosten. Eine medienbekannte frühere Ticketansteherin vor dem Haus der Berliner Festspiele steht jetzt hier ganz frisch an einer der Schlangen vor dem Hotel Thermal. Es fehlt jetzt nur noch, dass der ebenfalls medienbekannte Übernächtiger in den „Potsdamer Platz Arkaden“ Georg K. seinen Schlafsack in Karlovy Vary ausrollt. Noch ist er hier nicht zu sehen, aber vielleicht nächtigt er dann nächstes Jahr in Karlsbad.

Karlovy Vary

Karlovy Vary. (© Film Servis Festival Karlovy Vary)

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Meine gesehenen Filme dieses Jahr in Karlsbad:

„The Quiet Migration“ von Malene Choi
(Dänemark 2023 [OT (Originaltitel): „Stille liv“])
„Das Leben auf einem Bauernhof ist ruhig und etwas eintönig, aber auch hier könnte ein Meteor einschlagen. Der junge Adoptivvater Carl fühlt sich ebenso fehl am Platz, und sollte er es jemals vergessen, gibt es immer jemanden (auch entfernte Familienmitglieder), der bereit ist, ihn subtil daran zu erinnern. Seine Adoptiveltern meinen es gut, aber die Familie redet nicht viel darüber. Er soll eines Tages die Farm übernehmen, aber er möchte viel lieber seine Heimat Korea kennenlernen. Ein sanft beruhigender Film über die Notwendigkeit, dazuzugehören, nostalgisch auf 16mm-Film gedreht.“
(Quelle: Karlovy Vary International Film Festival)
Meine Bewertung: gut

„When the Waves Are Gone“ von Lav Diaz
(Frankreich, Dänemark, Portugal, Philippinen 2022 [OT: „Kapag wala na ang mga alon“])
„Perlmuttartige Wellen spülen die letzten Reste philippinischer Unschuld weg, die Sonnenstrahlen werden durch eine unheilvolle Nacht ersetzt, und zwei Männer nähern sich einander in der ewigen Stille einer exotischen Landschaft. Leutnant Hermes und Sergeant Macabantay waren einst Mitglieder des effektivsten Werkzeugs der Regierung in ihrem Krieg gegen die Drogen, aber diese Vollstrecker des Gesetzes sind Opfer ihres eigenen Gewissens und Feinde geworden, die auf einen Tag der Abrechnung warten. Lav Diaz‘ Dumas-artiges Epos spricht die Zuschauer wie ein hypnotischer Totentanz an, wobei der Regisseur meisterhaft eine Noir-Ästhetik mit westlichen Tropen verwebt und gleichzeitig das fragwürdige Regime von Präsident Duterte und die kranke Moral eines Landes herausfordert, das die Angewohnheit hat, seine Kriminellen zu glorifizieren.“
(Quelle: Karlovy Vary International Film Festival)
Meine Bewertung: gut

„If Only I Could Hibernate“ von Zoljargal Purevdash
(Frankreich, Schweiz, Mongolei, Katar 2023 [OT: „Baavgai bolohson“])
„Es gibt kaum eine Stadt auf der Erde, die stärker verschmutzt ist als die mongolische Hauptstadt Ulaanbaatar. Die meisten Einwohner der Stadt leben in Jurten und nutzen Kohle, um sich in den kalten Wintermonaten warm zu halten. Der Teenager Ulzii ist an diese Bedingungen gewöhnt, aber er will mehr. Er zeichnet sich in Physik aus und träumt davon, an einer renommierten ausländischen Universität zu studieren. Doch als seine Mutter aufs Land geht, um dort zu arbeiten, ist er gezwungen, sich um seine jüngeren Geschwister zu kümmern und seine Pläne auf Eis zu legen. Während manche Bären den ganzen Winter über in einem wohltuenden Schlaf überwintern, müssen andere ihre Krallen eingraben und gegen das Schicksal ankämpfen. Dieses meisterhafte Debüt ist eine gedämpfte Feier der Kraft menschlicher Entschlossenheit. Battsooj Uurtsaikh brilliert in seiner ersten großen Rolle.“
(Quelle: Karlovy Vary International Film Festival)
Meine Bewertung: gut

„We Have Never Been Modern“ von Matěj Chlupáček
(Tschechien, Slowakei 2023 [OT: „Úsvit“])
„Inmitten einer blühenden Stadt im Baťa-Stil, eingebettet in die malerischen Ausläufer des majestätischen Tatra-Gebirges, steht eine Fabrik, deren junger Direktor für seine Zeit (es ist 1937) erfreulich modern ist. Doch lassen Sie sich nicht täuschen, die Protagonistin des Films ist eigentlich seine Frau Helena (Eliška Křenková). Die angehende Ärztin steht kurz vor der Geburt, doch ihr entschlossener Blick in die rosige Zukunft ihrer Familie wird plötzlich durch die Entdeckung der Leiche eines Neugeborenen im Innenhof der pulsierenden Fabrik getrübt. Helenas angeborenes Einfühlungsvermögen, das durch ihre Schwangerschaft noch verstärkt wird, wird durch die auffallend schnelle Lösung des Rätsels nicht befriedigt. Ein mitreißendes Detektivdrama mit progressiver und zutiefst menschlicher Perspektive auf ein Thema, das nicht nur kurz vor dem unerwarteten Krieg, sondern auch Jahrzehnte später umstritten war.“
(Quelle: Karlovy Vary International Film Festival)
Meine Bewertung: befriedigend

„You Sing Loud, I Sing Louder“ von Emma Westenberg
(USA 2022 [OT: „You Sing Loud, I Sing Louder“])
„Schönheit und Zärtlichkeit verbergen sich hinter Subtilität. Ein Vater und seine zwanzigjährige Tochter, zwei Menschen, die schon zu lange voneinander getrennt sind, machen sich auf den Weg von San Diego nach New Mexico. Nach Jahren der Trennung versuchen sie, ihre Beziehung durch die Suchtprobleme der Tochter wieder aufzubauen. Mit jedem Kilometer stellen sie fest, dass sie mehr gemeinsam haben als nur eine Schwäche für Süßigkeiten. Das charismatische Duo des Roadmovies wird von Ewan McGregor und seiner Tochter Clara verkörpert, und die beiden schaffen es, ihren Charakteren einen unnachahmlichen Charme und Authentizität zu verleihen. Ein Drama voller subtilem Humor und elterlicher Liebe.“
(Quelle: Karlovy Vary International Film Festival)
Meine Bewertung: ausreichend

„The Lost Children“ von Michèle Jacob
(Belgien 2023 [OT: „Les enfants perdus“])
„Die zehnjährige Audrey und ihre drei Geschwister finden sich verlassen in einem alten Haus wieder, in dem sie ihre Sommerferien mit ihrem Vater verbringen sollten, doch er verschwindet plötzlich in der Nacht. Anfangs warten die Kinder vergeblich auf seine Rückkehr, doch schon bald merken sie, dass sie sich um sich selbst kümmern müssen, was jedoch nicht einfach sein wird. Der Wald, der das abgelegene Haus umgibt, scheint die kleinen Schiffbrüchigen nicht durchlassen zu wollen, und vor allem nach Einbruch der Dunkelheit passieren bizarre Dinge. Mysteriöse Monster, die Angst vor dem Licht haben, Tunnel, in denen die Zeit einfach verloren geht – all dem müssen sich die Jugendlichen in einem fantastischen Drama stellen, das den Schrecken und die Not von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen vereint, Empfindungen, die leider nicht gelindert werden können, indem man sie einfach mit einer Taschenlampe beleuchtet.“
(Quelle: Karlovy Vary International Film Festival)
Meine Bewertung: befriedigend

„Empty Nets“ von Behrooz Karamizade
(Deutschland, Iran 2023 [OT: „Toorhaye khali“])
„Amir und Narges, zwei Verliebte, die man als unter einem unglücklichen Stern geboren bezeichnen könnte. Der junge Mann stammt aus ärmlichen Verhältnissen und ist nach seiner Entlassung als Kellner gezwungen, Arbeit in einer Fischergemeinde zu finden. Narges hat einen höheren sozialen Status und stammt aus einer „guten Familie“. Vorerst halten sie ihre Beziehung geheim. Damit sie heiraten können, muss Amir genug Geld für eine Mitgift verdienen. Zu allem Überfluss entdeckt er, dass die Fischerei, die ihn beschäftigt, auch in unehrliche Geschäftspraktiken verwickelt ist. Behrooz Karamizades Spielfilmdebüt ist ein realistisches Drama, das im Iran der Gegenwart spielt und auf Ausschmückungen verzichtet, um einen Kampf um das Recht auf Liebe darzustellen, ein Anspruch, der nicht von Geld abhängig sein sollte.“
(Quelle: Karlovy Vary International Film Festival)
Meine Bewertung: sehr gut

„Sensitive Person“ von Tomáš Klein
(Tschechien, Slowakei 2023 [OT: „Citlivý člověk“])
„‚Alt werden ist nichts für Weicheier‘, sagt eine der Figuren aus Jáchym Topols gefeiertem Roman, der nach Ansicht eines Rezensenten ‚ein komischer und brutaler Bericht von der Kehrseite des Lebens‘ ist und nun von Tomáš Klein, einem der talentiertesten tschechischen Regisseure, lose verfilmt wird. Dieses düster-groteske Drama führt auf mehr als einen Weg. Es gibt den wirklichen Weg – manchmal düster, manchmal verrückt –, auf dem Papa Mour, ein umherziehender Schauspieler, seine Frau Mutter und ihre beiden Söhne versuchen, nach Hause zurückzukehren. Und dann ist da noch die imaginäre – mäanderndere und staubigere, in der die aufwühlende intellektuelle Jugendlichkeit (oder Unreife, wie Pessimisten sagen würden) mit Umständen fehdet, die den Protagonisten zwingen, sich Weisheit anzueignen. Eine rastloses und pikantes filmisches Feuerwerk über Liebe, Angst vor Einsamkeit und Söhne, die ihren Vater aufmerksam anstarren.“
(Quelle: Karlovy Vary International Film Festival)
Meine Bewertung: ungenügend

„Snake Gas“ von David Jařab
(Tschechien, Rumänien, Slowakei 2023 [OT: „Hadí plyn“])
„Diese lose Adaption von Joseph Conrads ‚Herz der Finsternis‘ folgt Robert Klein (Stanislav Majer) auf der Suche nach seinem Bruder, der unter mysteriösen Umständen verschwunden ist. Klein befindet sich auf einer Reise, auf der nichts vertraut oder sicher ist, eine Reise, auf der er gezwungen ist, seine Beziehung zu seiner Kultur, zu sich selbst und zu seinem Bruder, den er so gut zu kennen glaubte, neu zu bewerten. David Jařabs neuester Film ist eine höchst originelle Auseinandersetzung mit dem Konflikt der Kulturen, mit dem wir permanent rechnen müssen, mit der patriarchalen Überlegenheit des ‚weißen Mannes‘ und mit dem Recht, die natürlichen Ressourcen zu plündern, die langsam aber sicher zur Neige gehen.“
(Quelle: Karlovy Vary International Film Festival)
Meine Bewertung: mangelhaft

„Blaga’s Lessons“ von Stephan Komandarev
(Deutschland, Bulgarien 2023 [OT: „Urotcite na Blaga“])
„Blaga ist eine siebzigjährige, kürzlich verwitwete ehemalige Lehrerin und eine Frau mit festen Moralvorstellungen. Als sie von Telefonbetrügern um das Geld betrogen wird, das sie für das Grab ihres Mannes gespart hat, verliert ihr moralischer Kompass langsam die Orientierung. Stephan Komandarevs frühere Filme haben systematisch die ungünstige soziale Situation im postkommunistischen Bulgarien kritisiert, und Blagas Lektionen ist nicht anders. In diesem bewegenden Drama mit einer meisterhaften Darstellung von Eli Skorcheva als Bla richtet Komandarev sein Objektiv auf das Leben der heutigen Senioren – einer verletzlichen Gruppe, der Politiker so oft das Recht auf ein menschenwürdiges Leben versprechen. Doch die Realität sieht ganz anders aus.“
(Quelle: Karlovy Vary International Film Festival)
Meine Bewertung: sehr gut

„Dancing on the Edge of a Volcano“ von Cyril Aris
(Deutschland, Libanon 2023 [OT: „Dancing on the Edge of a Volcano“])
„Eine katastrophale Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020 verwüstete nicht nur einen großen Teil der libanesischen Hauptstadt, sondern auch das, was von den Hoffnungen ihrer Bewohner auf ein menschenwürdiges Leben in einem Land ohne Korruption übrig geblieben war. Das Trauma lähmt auch ein Filmteam mitten in der Produktion. Die Frage, ob sie ihr Traumprojekt weiter verfolgen sollen, drängt sich immer mehr auf. Und was ist mit dem Schicksal und seinen fast tödlichen Hindernissen? Ein Film über die Entstehung eines Films; ein lebendiger Bericht über den Zustand eines exquisiten, kränkelnden Landes; eine dramatische Ballade, die ein schreckliches Dilemma schildert: Soll man in der geliebten Heimat bleiben, auch wenn das bedeutet, unter der Schwelle der Menschenwürde zu leben? Sollte man mit den Worten der libanesischen Dichterin Nadia Tueni weitermachen: ‚Ich wähle das Meer trotz Schiffbrüchen‘.“
(Quelle: Karlovy Vary International Film Festival)

Meine Bewertung: mangelhaft

„The Hypnosis“ von Ernst De Geer
(Frankreich, Schweden, Norwegen 2023 [OT: „Hypnosen“])
„André und Vera sind beide Lebens- und Geschäftspartner, die versuchen, eine mobile App für reproduktive Gesundheit von Frauen auf den Weg zu bringen. Am Vorabend eines Wochenendprogramms für vielversprechende Start-ups, bei dem sie potenzielle Investoren auf sich aufmerksam machen wollen, versucht sich Vera mit Hypnosetherapie, um mit dem Rauchen aufzuhören. Die Erfahrung hat jedoch einen unerwarteten Nebeneffekt: Sie beginnt, alle sozialen Hemmungen zu verlieren. Ernst De Geers Debüt ist eine frische, moderne Satire, die von Situationshumor und durchdringenden Dialogen profitiert. Gleichzeitig ist die Ironie dessen, was vor sich geht, offensichtlich. Eine individualistische Gesellschaft kann uns zwar ermutigen, wir selbst zu sein, aber sie bleibt kompromisslos in ihren Ansprüchen, wie wir uns zu verhalten haben.“
(Quelle: Karlovy Vary International Film Festival)
Meine Bewertung: gut

„Red Rooms“ von Pascal Plante
(Kanada 2023 [OT: „Les chambres rouges“])
„Der Tag, auf den Kelly-Anne gewartet hat, ist gekommen. Der Prozess gegen Ludovic Chevalier, der des brutalen Mordes an drei minderjährigen Mädchen beschuldigt wird, beginnt. Im Gegensatz zu den meisten Menschen ist Kelly-Anne von dem Mann fasziniert, sie ist besessen von ihm und besucht jede einzelne Gerichtsverhandlung in der Hoffnung, dass er ihr wenigstens einen flüchtigen Blick zuwirft. Die Grenze zwischen Realität und Fantasie verschwimmt jedoch, bis Kelly-Anne aufhört, eine bloße passive Beobachterin zu sein. Pascal Plante interessiert sich erneut für weibliche Subjektivität, doch diesmal hat er sich einen Arthouse-Thriller über die gefährliche Anziehungskraft des Bösen ausgedacht. Gleichzeitig entwickelt sich das Wechselspiel zwischen dem, was wir sehen können und was nicht, und dem, was explizit ist und was Vermutung ist, zu einem fast physischen Seherlebnis.“
(Quelle: Karlovy Vary International Film Festival)
Meine Bewertung: sehr gut

„Slow“ von Marija Kavtaradze
(Spanien, Schweden, Litauen 2023 [OT: „Slow“])
„Eines Tages lernt die Tänzerin Elena den Gebärdensprachdolmetscher Dovydas kennen. Sie fühlt sich wohl bei ihm, als würde sie ihn schon lange kennen – und doch ist die Bindung, die sich zwischen ihnen bildet, mit nichts zu vergleichen, was sie zuvor erlebt hat. In ihrem zweiten Film erforscht die Regisseurin Marija Kavtaradze die Themen Nähe und Intimität zwischen zwei Menschen in einer Beziehung, die sich Stereotypen, Erwartungen und einfachen Definitionen widersetzt, und das mit einer bemerkenswerten Zärtlichkeit, Zartheit und Verständnis für ihre Protagonisten und ihre Gefühle. Slow wurde im Wettbewerb von Sundance uraufgeführt, wo er von Publikum und Kritikern begeistert aufgenommen wurde und auch den Regiepreis mit nach Hause nahm.“
(Quelle: Karlovy Vary International Film Festival)
Meine Bewertung: sehr gut

„Citizen Saint“ von Tinatin Kajrishvili
(Frankreich, Bulgarien, Georgien 2023 [OT: „Mokalake Tsmindani“])
„Auf dem Hauptplatz einer Bergbaustadt steht ein Kreuz mit der Darstellung eines Heiligen, der von den örtlichen Bergleuten als ihr Beschützer angesehen wird. Eines Tages wird das Kreuz zur Reparatur abgebaut und die Statue des Heiligen verschwindet plötzlich. Als daraufhin ein mysteriöser Fremder unter ihnen auftaucht, zählen die Bewohner zwei und zwei zusammen. In ihrem dritten Spielfilm, einer satirischen Parabel über einen Heiligen, der das Kreuz herabsteigt, um unter Sterblichen zu leben, fragt sich Tinatin Kajrishvili, woran die Menschen glauben wollen. Haben Heilige als leblose Symbole eine größere Bedeutung oder haben sie das Recht, als lebende Menschen zu existieren? Die sorgfältig komponierten Schwarz-Weiß-Bilder des erfahrenen Kameramanns Krum Rodriguez unterstreichen die Unterdrückung des Lebens in der Bergbaustadt und auch die Absurdität der entstehenden Situation.“
(Quelle: Karlovy Vary International Film Festival)
Meine Bewertung: gut

„Birth“ von Ji-young Yoo
(Südkorea 2022 [OT: „Birth“])
„Jay, eine vielversprechende junge Schriftstellerin, veröffentlicht ihr neues Buch, während ihr Freund Geonwoo, der an einer privaten Sprachschule unterrichtet, für eine Beförderung getippt wird. Sie lieben sich, kümmern sich umeinander und haben ein gutes Verhältnis. Bis eine ungeplante Schwangerschaft sie aus der Bahn wirft. Sie wollten kein Kind und eine Familiengründung würde ihre Karriereaussichten gefährden. Doch wer hat das letzte Wort, wenn man sich nicht auf eine Lösung der Situation einigen kann? Der koreanische Regisseur präsentiert eine Geschichte, die von einem Gefühl der Niedergeschlagenheit überschattet wird, in einer subtilen Darstellung eines Paares, das an einem Scheideweg in seinem gemeinsamen Leben ankommt. Wann sonst sollte man die Tabus der Elternschaft und die Vorurteile der Mutterschaft brechen, wenn das Recht der Frau, selbst zu entscheiden, was mit ihrem eigenen Körper geschieht, wieder in Frage gestellt wird.“
(Quelle: Karlovy Vary International Film Festival)
Meine Bewertung: sehr gut

„She Came at Night“ von Jan Vejnar und Tomáš Pavlíček
(Tschechien 2023 [OT: „Přišla v noci“])
„Jirka und Aneta sind ein junges Paar, das die Routine ihrer ruhigen Beziehung genießt und es nicht eilig hat, große Entscheidungen im Leben zu treffen. Eines Nachts klingelt es in ihrer geerbten Wohnung an der Tür und Jirkas Mutter Valerie steht vor der Tür. Aus einem anfänglich kurzen Anruf wird ein nicht enden wollender Besuch einer intensiven und ätzenden Diva, deren Anwesenheit die Privatsphäre des Paares grundlegend stört. Gewissheiten werden erschüttert, Grenzen durchbrochen. Obwohl das Regieduo des Films mit einer vertrauten Prämisse arbeitet, untergraben sie jeden schwarzen Humor mit einem Gefühl der Spannung, das eher in Horrorfilmen zu finden ist, und das alles verpackt in die eindringliche Frage: Ist das unerträgliche Ersticken der Mutter legitim oder sind Mütter manchmal die größten Monster von allen?“
(Quelle: Karlovy Vary International Film Festival)
Meine Bewertung: gut

„Anatomy of a Fall“ von Justine Triet
(Frankreich 2023 [OT: „Anatomie d’une chute“])
„Sandra (die faszinierende Sandra Hüller) ist eine erfolgreiche Schriftstellerin, die mit ihrem Mann und ihrem Sohn Daniel in den französischen Alpen lebt. Als Daniel eines Tages vom Spaziergang mit dem Hund nach Hause kommt, findet er die Leiche seines Vaters auf dem Boden liegen. Außer den Eltern befand sich zu diesem Zeitpunkt niemand im Haus, und es wird untersucht, ob es sich bei dem Sturz um einen Selbstmord handelte oder ob Sandra ihren Mann getötet hat… In ihrem packenden Gerichtsdrama mit seinem raffinierten feministischen Unterton demontiert Justine Triet die Beziehung des zentralen Paares Stück für Stück, reduziert sie auf ihren Kern und fragt den Zuschauer, wie ihre eigenen Beziehungen standhalten würden, wenn Momente der privaten Hölle einer ähnlichen öffentlichen Kontrolle unterzogen würden. Der Film gewann die Goldene Palme bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes.“
(Quelle: Karlovy Vary International Film Festival)
Meine Bewertung: gut

„Club Zero“ von Jessica Hausner
(Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Dänemark, Österreich 2023 [OT: „Club Zero“])
„Bist du, was du isst? Natürlich bist du das! Aber vergiss nicht, dass es auch wichtig ist, wie du dich ernährst. Das ist die Botschaft, die Fräulein Novak (Mia Wasikowska) den jungen Teilnehmerinnen ihres Wahlfachs Ernährung vermittelt, mit dem sie den Horizont der Schülerinnen und Schüler an einem privaten Gymnasium erweitert. Ihre Lehrmethode des ‚bewussten Essens‘ ist, gelinde gesagt, unorthodox – und das, bevor ihre Schüler lernen, dass sie, nachdem sie alle ihre Ideen aufgenommen haben, dem exklusiven Club Zero beitreten können. Jessica Hausner kehrte mit einem leidenschaftslos geometrischen Film nach Cannes zurück, der das Verhältnis des Menschen zum Essen – und zur Welt – prägnant kommentiert. Es ist eine brutale Prämisse in einem brutalistischen Ambiente, maßgeschneidert für das unverwechselbare Interieur der Auditorien des Hotels Thermal.“
(Quelle: Karlovy Vary International Film Festival)
Meine Bewertung: sehr gut

„Restore Point“ von Robert Hloz
(Polen, Tschechien, Slowakei, Serbien 2023 [OT: „Bod obnovy“])
„Wir schreiben das Jahr 2041 und die Menschheit ist an einem Punkt angelangt, an dem sie dem Tod entgehen kann. Jeder, der eines unnatürlichen Todes stirbt, hat das Recht, wieder zum Leben erweckt zu werden. Alles, was Sie tun müssen, ist, mindestens alle achtundvierzig Stunden ein Backup Ihrer Persönlichkeit zu erstellen – einen Wiederherstellungspunkt. Aber es gibt eine Bewegung von Leuten, die versuchen, dieses Konzept zu sabotieren. Agentin Em wird in einen Fall hineingezogen, der nicht so einfach ist, wie es zunächst schien und dessen Konsequenzen bis in die höchsten politischen Ebenen reichen. Das Spielfilmdebüt von Regisseur Robert Hloz ist eine packende Geschichte, ein außerordentlich einfallsreiches visuelles Erlebnis und eine Polemik mit der Idee, dass technologischer Fortschritt immer eine gute Sache ist.“
(Quelle: Karlovy Vary International Film Festival)
Meine Bewertung: gut

„Fremont“ von Babak Jalali
(USA 2023 [OT: „Fremont“])
„Nach einer schlaflosen Nacht aufstehen, Nachbarn grüßen, zur Arbeit gehen, wo sie ihre Tage damit verbringt, Glückskekse zu backen. Dies ist das Leben von Donya, einer afghanischen Einwanderin, die sich jetzt in Fremont, USA, niedergelassen hat. Einsamkeit und Schlaflosigkeit sind Probleme, die die junge Frau zunächst auf eigene Faust und später mit Hilfe eines schrulligen Therapeuten anzugehen versucht. Es ist unklar, ob es ihr schwerer fällt, ihre traumatische Vergangenheit zu verarbeiten oder ihr aktuelles unstetes Dasein. Wird Donya eine Lösung finden, indem sie eine Nachricht in einem der Tausenden von Glückskeksen versteckt, die verschickt werden? Eine leicht wehmütige Komödie über eine Suche nach Selbstfindung, die die Frage stellt, ob der Flüchtlingsstatus eine Bedingung der geografischen Lage oder eine Geisteshaltung ist. Es ist auch ein Film über Hoffnung, die kommt, wenn wir sie am wenigsten erwarten.“
(Quelle: Karlovy Vary International Film Festival)
Meine Bewertung: gut

„Perfect Days“ von Wim Wenders
(Deutschland, Japan 2023 [OT: „Perfect Days“])
„Diese humanistische Erzählung aus dem heutigen Tokio fragt, wie wir unser Leben trotz aller Schwierigkeiten, denen wir uns stellen müssen, leben können. Hirayama nimmt einen Job als Putzer öffentlicher Toiletten mit einem überraschenden Gefühl der Demut an. Obwohl uns sein Leben als mühsam, langweilig und manchmal sogar erniedrigend erscheinen mag, gibt seine Routine jedem Tag die dringend benötigte Struktur, und er genießt einfache Momente der Kontemplation im Park, das Lesen eines Buches oder das Hören von Musik. Er strahlt ein Gefühl von Frieden und Glück aus, aber ist das alles nur ein Abwehrmechanismus? Kōji Yakushos Darstellung des wortkargen Toilettenreinigers brachte ihm in Cannes einen wohlverdienten Preis als bester Schauspieler ein.“
(Quelle: Karlovy Vary International Film Festival)
Meine Bewertung: gut

Eli Skorcheva mit ihrem Kristallglobus für die beste Schauspielerin

Eli Skorcheva mit ihrem Kristallglobus für die beste Schauspielerin.
(© Film Servis Festival Karlovy Vary)

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Der beste Film

Dann ist da dieser Film „Blaga’s Lessons“ von Stephan Komandarev, eine bulgarisch-deutsche Koproduktion, die aber durch Regie, Schauspielensemble und Drehorte eher bulgarisch als deutsch ist. Es geht in dem Film um Telefonbetrug.

Die in einer bulgarischen Mittelstadt lebende, pensionierte Lehrerin Blaga händigt einem fremden Mann, der angeblich unter Polizeibewachung steht, ihre gesamten Ersparnisse aus, um anschließend von der echten Polizei zu erfahren, dass sie einer Betrügerbande auf den Leim gegangen ist. Es gelingt der Polizei nicht, die Gangster zu fassen und der pensionierten Lehrerin Blaga ihr Geld zurückzugeben. Blaga benötigt aber dringend Geld, um eine Grabstätte für ihren kürzlich verstorbenen Mann zu finanzieren, und entwickelt aus der Not heraus einen abenteuerlichen Plan: sie will sich von der Bande der Telefonbetrüger als Fahrerin anheuern lassen.

„Blaga’s Lessons“ ist ein spannender, handlungsgetriebener Film mit einem genauen Blick auf die sozialen Verwerfungen in dem kleinen Land am kargen Krustenrand der EU. Die bisher weitgehend unbekannte Darstellerin Eli Skorcheva spielt die Hauptfigur Blaga in ihrer Ambivalenz sehr einnehmend. Zurecht erhält Skorcheva dafür den Kristallglobus als beste Schauspielerin im Wettbewerb des Festivals.

Den Hauptpreis des Festivals in Karlovy Vary, den goldenen Crystal Globe für den besten Film, erhält „Blaga’s Lessons“ ebenfalls. Und das ist so was von verdient. Er war einfach der beste Film im Wettbewerb.

Festival-Trailer mit Johnny Depp. (Eingebettetes YouTube-Video)


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